Winkler: "Die Deutschen und die Revolution"
11.11.2024
Die Deutschen können nicht Revolution? Von wegen! Das zeigt einer der renommiertesten Historiker Deutschlands, Heinrich August Winkler, in seinem neuesten Geschichtsbändchen „Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989“. 150 Jahre deutsche Geschichte fasst Winkler dort auf etwa 150 Seiten zusammen. Knapper geht es wohl kaum. Spannender ebenso wenig.

Denn genau die richtigen Ereignisse mit genau den wichtigsten Protagonisten vereint der emeritierte Geschichtsprofessor in seine spannend-unterhaltsame Lektüre. Ganz anders als die zuhauf sich tummelnden, mehrere hundert Seiten langen Geschichtsschinken: Detaillierte Fakten samt eines geforderten langen Atems verdrängen hier allzuoft das gesamte Ganze und die intellektuelle Leichtigkeit. Der Leser sieht sprichwörtlich „den Wald vor lauter Bäumen“ nicht mehr - abgesehen von der verdaulichen Schwerkost, die ihm überfällt.

Nichts davon trifft jedoch auf den Leser des neuen Winklers zu. Getreu dem Motto „in der Kürze liegt die Würze“ taucht Winklers Leser in die Zeit der Märzrevolution von 1848 über die deutsche Revolution von 1918/1919 bis hin zur friedlichen Revolution 1989 ein. Kurz, knackig und klug. Mit einem starken Fokus auf die Rolle der Sozialdemokratie. Wer Winkler kennt, weiß: Der ausschließlich einseitig-historische Blickwinkel ist ihm ein Graus. Gesellschaftliche und politische Sachverhalte dürfen bei seinen historischen Betrachtungen nicht fehlen. Der Ganzheit wegen - und ihres möglichst realitätsbezogenen Verständnisses.

So widerlegt Winkler stimmig die These des Tübinger Historikers Rudolf Stadelmann, Deutschland sei ein „Volk ohne Revolution“. Geschenkt: Von der Leidenschaft, vom Pathos der „Grande Nation“ oder der Engländer seien die Deutschen meilenweit entfernt. Jedoch kristallisierte sich eine spezifisch deutsche Form der Revolution heraus.

Mal vorsichtig, wie es der emeritierte Historiker konstatiert: Karl Marx und die Linken sahen den Siegeszug der Revolution nur in einen Weltkrieg münden, deren Todfeind das russische Zarenreich war. Um diesen radikal-unsinnigen Bellizismus zu bändigen, taten Liberale und Konservative alles in ihrer Macht Mögliche, um die Revolution von 1848 zu beenden. Mit Erfolg. Aber mit nicht unerheblichen Kosten verbunden: „Es ist einer der Gründe für die Schwäche der freiheitlichen Traditionen in Deutschland des 20. Jahrhunderts oder, um denselben Sachverhalt anders auszudrücken, für die obrigkeitliche Verformung großer Teile des deutschen Bürgertums oder, noch schärfer, die Brechung des liberalen Selbstbewusstseins.“

Diese Mentalität ebnete laut Winkler den Weg für weitere historisch katastrophale Ereignisse. Aber auch für eine weitere deutsche Form der Revolution: „von oben“: Noch vor der deutschen Reichsgründung 1871 regierte Otto von Bismarck entgegen dem Willen der Parlamentsmehrheit in Preußen und annektierte völkerrechtswidrig die Herzogtümer Schleswig und Holstein. Weitaus bekannter ist wohl seine politische Regierungsform mit „Zuckerbrot und Peitsche“. Während er sozialdemokratische Verfolgungen legalisierte („Sozialistengesetz“), führte er etliche soziale Reformen ein.

Mit seinem Ausscheiden am 20. März 1890 als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident, begann zugleich das Ende des Deutschen Reiches. Die Lust auf Krieg in elitären Kreisen gepaart mit einer außenpolitischen „Selbstauskreisung“ Deutschlands mündeten im Ersten Weltkrieg. Die Niederlage Deutschlands war zugleich der Anfang der Ersten Deutschen Republik. Nach Ansicht Winklers belasteten jedoch zwei Sachverhalte diese junge Republik massiv. Erstens: „Die Geburt der parlamentarischen Demokratie aus der Niederlage erleichterte es der nationalistischen Rechte, das parlamentarische System als Staatsform der westlichen Siegermächte, mithin als ein undeutsches System, und als Folge von ‚linkem‘ Verrat zu diffamieren“. Zweitens: Das nicht ganz geglückte parlamentarische System ermöglichte Milieuparteien, die nicht miteinander regieren konnten und sich ideologisch in ihren eigenen Ideen steigern konnten.

Wohin dieser parlamentarische Konstruktionsfehler führte, zeigt nach Winkler die Geschichte. Politische Parteien, die nicht versuchten gesellschaftliche Probleme gemeinsam zu lösen, sondern ihr ideologisches Parteiprogramm umsetzten: „Die Folge war die Herausbildung von Milieuparteien, die dazu neigten, die Interessen der von ihnen repräsentierten Teile der Gesellschaft ideologisch zu überhöhen“. Allen voran die Sozialdemokraten betrachteten es als „Hauptbeschäftigung“ sich von der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) abzugrenzen: „Um einen weiteren Rechtsruck im Reich zu verhindern und in Preußen, […] an der Macht zu bleiben und die Kontrolle über die Polizei zu behalten, entschieden sich die Sozialdemokraten, das Minderheitskabinett Brüning fortan zu tolerieren.“

Kurzfristig war das durchaus erfolgreich. Langfristig jedoch nicht. In der Folge steigerten sich soziale und wirtschaftliche Konflikte, Radikalisierungen von Parteien und Bürgern waren zu erwarten. „Als Oppositionspartei aber fiel die SPD seit Oktober 1930 aus. Ebenso wie mit der Selbstausschaltung des Reichstags ein halbes Jahr zuvor trug sie durch dieses Faktum dazu bei, den entschiedensten Gegnern der Weimarer Demokratie, in erster Linie der NSDAP, in zweiter der KPD, Wähler zuzuführen.“

Für den renommierten Historiker liegt der Bärenanteil, warum sich der Nationalsozialismus etablieren konnte, beim damaligen Reichspräsidenten, Paul von Hindenburg: „Zu einer Machtübertragung an Hitler, dem Führer der stärksten Partei, war der Reichspräsident zu keiner Zeit gezwungen – sowenig wie er Ende Mai 1932 genötigt war, seinen treuen Unterstützer Brüning zu entlassen, durch den ultrakonservativen Franz von Papen zu ersetzen und damit die gemäßigte, parlamentarisch tolerierte Form des Präsidialregimes durch eine offen antiparlamentarische, autoritäre Form abzulösen“.

Die deutsche Bevölkerung hatte offenbar auch wenig dagegen. Nach der bekannten Machtergreifung Adolf Hitlers am 31. Januar 1933, ließ Hitler noch am Todestag von Hindenburg, die Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers in seine Person vereinen. In einem Plebiszit am 19. August 1934 stimmten 84,3 Prozent der Wahlberechtigten dieser Vereinigung zu. Nota bene: 89,9 Prozent nahmen an dieser Abstimmung teil!

Kurzum: Neben der falschen Abgrenzungspolitik der NSDAP, nach Ansicht Winklers, allen voran durch die Sozialdemokraten und Hindenburgs fatalen Entschluss Hitler die Kanzlerschaft zu überlassen, begünstigten vier weitere Faktoren den Aufstieg der Nationalsozialisten: 1. Wirtschaftskrise, 2. das nationale Trauma der Niederlage aus dem Ersten Weltkrieg, 3. der Friedensvertrag von Versailles („Dolchstoßlegende“) und 4. das mentale Unverständnis der deutschen Bevölkerung für eine „liberale pluralistische Demokratie“.

Eben diese nationalsozialistische Machtübernahme könne man durchaus als revolutionären Akt begreifen. Viele der nationalsozialistischen Maßnahmen modernisierten die Gesellschaft, wie etwa ihre gesellschaftliche Gleichstellung in manchen Bereichen. So wurde das Offizierskorps „entaristokratisiert“ - wiewohl viele dieser Maßnahmen als Fortsetzung der Weimarer Republik betrachtet werden können. Ähnlich ambivalent werde die Friedliche Revolution von 1989 betrachtet. Ralf Dahrendorf entwickelte den Neologismus „Refolution“: Der Zusammenbruch des sozialistischen Regimes sei eine Kombination aus Revolution und Reformen gewesen. Winkler hingegen betrachtet die Geschehnisse von 1989 als „europäischste Revolution seit 1848“.

Trotz dieser Unstimmigkeiten, wann und wo von einer Revolution gesprochen werden könne, so ist sich Winkler sicher: „Die Linke kriegerisch und die Rechte friedlich: Die Formel wäre zwar einseitig, aber doch weniger falsch als ihre Umkehrung. Der gemäßigte Liberalismus, der die Revolution nie wirklich gewollt hatte, rückte in dem Maß nach rechts, wie die Linke sich radikalisierte; (...)“.

Genau wie heute. Je mehr Genderstern, „Welcome refugees“ und Regenbogen-Flair und je mehr liberal-bürgerliche Ansichten ausgegrenzt werden, desto mehr Leute treibt es in radikale Arme. Sowohl in die rechten als auch in die linken. Das bedeutet auch im Sinne bürgerlich-liberaler Werte mit der AfD zu koalieren. Schließlich ist sie eine demokratisch legitimierte Partei.

Wer diese Konklusion besser verstehen möchte, sollte zu Winklers „Die Deutschen und die Revolution“ greifen. Dort steht alles geschrieben. Klipp und klar. Schwarz auf Weiß. Doch auch, wer nur sein historisches Wissen auffrischen möchte, muss definitiv zu Winkler greifen. Geschichte ist selten so kompakt und so spannend verpackt. Daher eine absolute Literaturempfehlung. Nicht nur für Geschichtsinteressierte. Sondern für jeden.

Winkler, Heinrich August (2023). „Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989“. München: C.H. Beck.
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