Der sensible Kästner
25.02.2024
Ohne Zweifel: Erich Kästner fühlte viel. Er fühlte mit den Armen, den Leidenden und den Ausgestoßenen. So schrieb er frenetisch gegen „die Trägheit der Herzen und gegen die Unbelehrbarkeit der Köpfe“, wie er es in „Kästner über Kästner“ formulierte. Gleichzeitig fühlte er sich zum weiblichen Geschlecht magisch hingezogen. Ein Unglück für seine Lebensgefährtinnen.
Doch Kästner mangelte es keineswegs an Selbstreflexion. In seiner bereits erwähnten Rede „Kästner über Kästner“ vor dem Zürcher PEN-Club sagte er über sich selbst: „Ich bin keineswegs so vernarrt in ihm, daß ich seine Grenzen, Mängel und Fehler nicht sähe und in einem Werturteil über ihn nicht einkalkulieren wüßte. […] zur A-Klasse gehört er nicht“. Frauen, Freunde und Familie wissen nur allzu gut, wovon er sprach. Während seine Lebensgefährtin, Luiselotte Enderle, in München auf ihn wartete, besuchte er seine Freundin, Friedel Siebert, und den gemeinsamen Sohn Thomas in Berlin.
Was er nicht im Leben umsetzen konnte oder wollte, lebte er dafür umso mehr schriftstellerisch aus. Deswegen beschrieb er sich auch als „Moralisten“ und „Rationalisten“. Die erste Strophe seines Gedichts „Sachliche Romanze“ aus dem Jahr 1928 veranschaulicht das sehr gut:
„Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.“
Ohne viel Drama, ohne viel Hysterie, kurz: rational, thematisiert Kästner das Ende einer Liebe. Es ist für beide Parteien schmerzhaft. Selbstredend. Doch anstatt gegen das Unmögliche anzukämpfen, akzeptieren beide diesen Verlust. Ohne Verbitterung, ohne Heuchelei, kurz: moralisch, beugen sie sich dem Notwendigen.
Kästner spiegelt in seinen Werken das Leben wider. Mit all seinen Facetten. Gut und Böse, Schön und Hässlich, Klug und Dumm. Das macht er auf eine einzigartige einfühlsam-melancholische und dabei doch leicht-optimistische Weise. Indem er Gegensätze, wie Ratio und Moral, miteinander brillant verbindet.
Daher sind seine Werke auch der „Neuen Sachlichkeit“ zuzurechnen, die in der Weimarer Republik entstand. Anstatt zu romantisieren und zu idealisieren, konzentrierten sich Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“, wie auch etwa Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ illustriert, auf die sachlich-nüchterne Darstellung gesellschaftlicher und menschlicher Verhältnisse.
Weil hierbei auch das Pragmatische im Vordergrund stand, wurde die sogenannte „Gebrauchslyrik“ populär: Gedichte, die aus einem bestimmten Anlass verfasst wurden. Kästners „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühen?“ ist so ein Beispiel. Er schrieb es 1928 als Weckruf gegen den zunehmenden Kriegsenthusiasmus in der deutschen Gesellschaft. Vergeblich. 1939 rollten deutsche Panzer über Polen und deutsche Soldaten schossen die Welt in den Zweiten Weltkrieg.
Auch ein Erlebnis, das den 1899 Geborenen zeitlebens zum Pazifisten machte. Doch maßgeblich trugen der erste Weltkrieg und seine Einbeziehung in den militärischen Dienst zu seiner radikalen pazifistischen Haltung bei. Wie er sich selbst an die damalige Zeit 1951 als P.E.N.-Präsident erinnerte: „Der Weltkrieg hatte begonnen, und meine Kindheit war zu Ende“. Eine Herzschwäche, durch den harten Militärdrill verursacht, sollte den sensiblen Kästner bis zu seinem Tode an diese grausame Zeit erinnern. Eine Narbe, die den gebürtigen Dresdner womöglich enorm angetrieben hatte gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt anzuschreiben.
So erlebte Kästner seine größte Schaffensperiode in den Jahren zwischen 1927 und 1933 in Berlin als Journalist, Publizist und Schriftsteller - nach seinem Leipziger Studium und seiner Promotion – und avancierte zu einem der wichtigsten Intellektuellen an der Spree. In dieser Zeit verfasste er, neben den oben genannten Gedichten „Sachliche Romanze“ und „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühen?“, zum Beispiel das grandiose Gedicht „Moral“.
Es ist ein einfacher Zweizeiler mit maximaler Wirkung:
„Es gibt nichts Gutes
außer: Man tut es.“
Selten gelingt es einem Schriftsteller oder Poeten einen solchen intellektuellen Tiefgang in so wenige Worten zu packen. Und wenn es gelingt, wie hier Kästner, ist es einfach unbeschreiblich. Aber es bleibt auch ein Unikum.
Denn: Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten galt Kästner fortan als „persona non grata“. Es war zugleich das Ende seiner exzeptionellen Schaffenskraft. Seine Werke, wie etwa „Fabian, die Geschichte eines Moralisten“ wurden 1933 Opfer der Bücherverbrennung - vor den Augen Kästners, der dem ganzen Spektakel beiwohnte. Trotz dieser Demütigung und Restriktion verließ er nicht seine Heimat. Wie er rückblickend festhielt: Wegen der Liebe zu seiner Mutter und zu Deutschland.
Obwohl die Liebe für Kästners Werke im Nachkriegsdeutschland abnehmen sollte, wurde er umso mehr als Kinderbuchautor gefeiert. Werke, wie „Emil und die Detektive“ von 1929 oder „Das fliegende Klassenzimmer“ aus dem Jahr 1933 erlebten eine neue Renaissance. Es bedeutet aber nicht, dass es seinen Kinderbücher zur Weimarer Zeit an Popularität fehlte. Im Gegenteil. Der große Literatur-Papst, Marcel Reich-Ranicki, erinnerte sich in der Literatur-Serie „Lauter schwierige Patienten“ im Gespräch mit Peter Voß in den höchsten Tönen an „Emil und die Detektive“. Anders als die herkömmlichen Kinderbüchern spielte nämlich „Emil“ nicht in einer entfernt-exotischen oder antiken Welt, sondern im Hier und Jetzt, inmitten der Straßen Berlins. Zudem unterhielten sich die Figuren im Alltagsjargon. Das faszinierte damals immens den jungen Reich-Ranicki und seine Klassenkameraden.
Dass Kästner Kinderbuchautor wurde, ist Edith Jacobsohn zu verdanken. Die Ehefrau Siegfried Jacobsohns, Verleger der renommierten Zeitschrift „Die Weltbühne“, bat Kästner darum ein Kinderbuch für ihren Verlag zu verfassen. Kästner stimmte dem zu - und landete damit einen Erfolg. Nicht nur national. Bis heute werden seine Kinderbücher international gelesen und verfilmt. Disney produzierte etwa 1998 „Das doppelte Lottchen“ als „Ein Zwilling kommt selten allein“ mit Lindsay Lohan und Dennis Quaid. Das ist kein Zufall.
Wie seine Gedichte und Romane zeigen, verstand es Kästner unterschiedliche Welten, ja Gegensätze miteinander harmonisch in Einklang zu bringen:. Moral und Ratio, Gut und Böse, das Kind und den Erwachsenen. Eben diese Mesalliance mündete in seinen bekannten satirischen, pessimistisch-heiteren Formulierungen, wie etwa in „Große Zeiten“ aus dem Jahr 1931. Dort heißt es in der zweiten Strophe über „große Zeiten“:
„Sie wuchs. Sie wächst. Schon geht sie aus den Fugen.
Was tut der Mensch dagegen? Er ist gut.
Rings in den Wasserköpfen steigt die Flut.
Und Ebbe wird es im Gehirn der Klugen.“
Das Fantastische hierbei? „Große Zeiten“, wie viele seiner schriftlichen „Kämpfe“ gegen die menschliche Dummheit und für die rationale Menschlichkeit, verlieren keinerlei Aktualität. Egal zu welcher Zeit, egal in welchem Kulturkreis, überall, wo der Mensch ist, wird es extreme Rationalisten, auf der einen Seite, und radikale Moralisten, auf der anderen Seite, geben. Mal mehr, mal weniger, das ist von den gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig.
Denn: Der Mensch ist schwach. Kästner war es zwar auch: Zunächst verfiel er dem weiblichen Geschlecht, mit zunehmenden Alter dem Alkohol und schließlich starb er 1974 an Speiseröhrenkrebs. Im Gegensatz zu vielen anderen war sich jedoch Kästner seiner Makel bewusst.
Womöglich katapultierte ihn gerade diese Zerrissenheit, dieser Keil zwischen seinem idealem und seinem realem Ich, zu jenem schriftstellerischen Glanz, den wir bis heute bewundern können. Am Freitag, 23. Februar wäre Emil Erich Kästner, wie er mit ganzem Namen hieß, 125 Jahre alt geworden. Dass er nun in einer vernünftigeren, menschlicheren und friedlicheren Welt lebe!