Rusdhie "Knife"
23.06.2024
27 Sekunden klingen nicht besonders viel. Doch innerhalb von 27 Sekunden kann sich Einiges entwickeln: ein tiefsinniger Gedanke, eine plötzliche Einsicht, eine wahre Liebe. Doch ebenso schnell kann auch Einiges vernichtet werden: wie das Leben eines Menschen. Das Leben Salman Rushdies zum Beispiel. 27 Sekunden reichten aus, um Rushdies Leben von der einen auf die andere Minute zu verändern. 27 Sekunden reichten aus, um ihm eine Narbe für’s Leben zu hinterlassen. Und mit den Spuren dieser 27 Sekunden muss Rushdie ein Leben lang kämpfen.

Metaphorisch wie bildlich. Eine posttraumatische Belastungsstörung, ein verlorenes rechtes Auge und eine verkrüppelte linke Hand. Sie erinnern ihn stets an das unglaublich verstörende Ereignis, das ihn im August 2022 übereilen sollte und das ihn fast aus dem Leben gerissen hätte: den bestialischen Mordversuch auf ihn. In New York. Am 12. August 2022. An einem sonnigen Freitagmorgen. Um Viertel vor elf. Durch die Hand eines einzigen Mannes. Mit einem einfachen Messer.

Was in jenen 27 Sekunden, was davor und was danach geschah, verarbeitet Rushdie anschaulich in „Knife. Gedanken nach einem Mordversuch“. Es ist sein bisher persönlichstes und intimstes Werk. Die Erzählform während des gesamtes Buches veranschaulicht das. Denn anders als zum Beispiel in seinem autobiografischen Werk „Joseph Anton“, berichtet er in „Knife“ aus der ersten Perspektive.

Das zeigt auch: Das Messer kann jeden treffen. Es ist kein Werkzeug mehr, das zum Anschneiden einer Torte oder zum Aufschneiden eines Wildtieres genutzt wird. Nein, für Personen aus einem bestimmten Kulturkreis ist es vielmehr. Eine Waffe zum Töten Andersdenkender, also Ungläubiger. Vor der Islam-Lanze ist keiner mehr sicher. Rushdie bleibt da kein Einzelfall. Da wären: Der Terroranschlag auf das Redaktionsbüro von Charlie Hebdo am 7. Januar 2015. Der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche am 19. Dezember 2016. Der Messerangriff auf den Islamkritiker, Michael Stürzenberger, in Mannheim im Juni dieses Jahres.

Deswegen ist Rushdies „Knife“ in diesen Zeiten auch so unglaublich wertvoll. Weil es ungeschminkt und ungeschönt die Folgen eines barbarischen Angriffs auf einen andersdenkenden Mann veranschaulicht. Und mit wie viel Leid und Elend das Ganze verbunden ist – nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für seine Liebsten. Trotz allem versucht Rushdie in Worte zu fassen, was nicht begrifflich greifbar ist. Den Schmerz. Den Verlust. Den Tod. Die ihm begegneten. Während, vor und nach dem Attentat.

Indem er dem Leser möglichst detailgetreu, direkt und anschaulich seine Verletzungen darlegt: „ […] denn das enorm angeschwollene Auge war aus seine Höhle gequollen und hing wie ein weich gekochtes Ei an meinem Gesicht herab“. Seine demütigenden Arztbesuche beim Urologen: „Oh, naja, okay, wenn das so ist, warum nicht. Ich bin hier, weil mit dem Messer auf mich eingestochen wurde, aber klar, untersuchen wir doch auch meine Prostata“. Und seine intimsten Gedanken („Ich sterbe“), die in seinem Kopf, während des Attentats schwirrten. Einem ungleich ungerechtem Duell: Da der 24-Jährige. Mit Plan und einem Messer. Aus dem dunklen Hinterhalt. Dort der 75-Jährige. Überrascht und ohne Waffe. Auf der offenen Bühne.

Doch inmitten dieser ganzen Tragödie gibt es auch Lichtblicke: Die Unterstützung Rushdies durch Familie und Freunde, die Liebe zu seiner Ehefrau, die schrittweise geistige und körperliche Erholung von dem schrecklichen Vorfall. Anders ausgedrückt: Das große Glück am Leben zu sein. Das alles half Rushdie das Geschehene zu verarbeiten, einzuordnen und zu akzeptieren. Dass er hierbei stets über sich selbst lachen kann, verdeutlicht das noch einmal. So wie Rushdies kreisende Gedanken kurz nach dem Attentat, blutüberströmt und am Boden liegend, um seinen Anzug: […] doch nicht meinen schönen Ralph-Lauren-Anzug“ oder seine spätere ironische Selbstbetitelung als „Einäugiger“.

Das alles hätte aber Rushdie nie ohne einen ganz besonderen Menschen in seinem Leben stemmen können. Ohne seine Ehefrau Eliza. Durch das Attentat durchlitten sie gemeinsam Höllenqualen, doch gemeinsam schafften sie es: „Ja, wir hatten unser Glück aufs Neue erschaffen, wenn auch unvollkommen. […] Es war ein verletztes Glück, und in einer seiner Ecken lauerte ein Schatten, vielleicht für immer. Trotzdem war es ein starkes Glück, und während wir uns umarmten, wusste ich, es würde genügen“.

Inmitten von intoleranten und fanatischen Mitmenschen fällt das Glück nicht einfach vom Himmel. Es ist stets fragil und muss immer wieder erkämpft werden. Die 255 Seiten von Rushdies „Knife“ zeugen von dieser Tatsache. Sie sind der ehrliche Bericht eines Mannes, der einem religiösen Fanatiker zum Opfer fiel und sich mühsam wieder ins Leben zurück kämpften musste. In ein glückliches Leben, das mehr oder weniger durch leidvolle Erfahrungen und Ereignisse geprägt ist und das stets am seidenen Faden hängt. Für jeden von uns. Vor allem in diesen „messeraffinen“ Zeiten mit einigen hasserfüllten, gewaltbereiten Personen.

Denn: Nicht alle Narben verheilen, wie Rushdie zeigt. So bleibt er zeitlebens ein Gebrandmarkter. Gekennzeichnet durch die Messerführung eines einzigen wahnsinnigen, fanatischen Mannes. 27 Sekunden reichten hierfür aus. Nur SIEBENUNDZWANZIG.

Rushdie, Salman (2024). „Knife. Gedanken nach einem Mordversuch“. München: Penguin Random House.
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