Lehmann: "Ideologiemaschinen"
07.07.2024
„(Ghostbusters)
If there’s somethin’ strange
In your neighborhood
Who ya gonna call
(ghostbusters)
There’s somethin’ weird
And it don’t look good
Why ya gonna call
(ghostbusters)“
(Titelsong zu den Filmen – „Ghostbuster – Die Geisterjäger“ von Ray Parker Jr., 1984)
Die einen beschwichtigen, es gäbe sie nicht. Die anderen beteuern, es gäbe sie: Die „Cancel Culture“. Adrian Daub gehört eindeutig zu den Vertretern der ersten Position. Der Professor für vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Stanford behauptet in seinem 2022 erschienenen Werk „Cancel Culture Transfer“ „Cancel Culture“ sei nur ein „Gespenst“. Eine durchaus interessante These den gesamten Westen als Geisterhaus zu betrachten, in dem es wie wild spuke. Überraschend?
Mitnichten! Schließlich betreibt Daub den Podcast „The Feminist Present“, sieht Twitter als Sprachrohr für „rechts“ und begreift Waffenkultur als Ausdruck einer weißen, männlichen Identitätspolitik. Definitiv Symptome, die stark darauf hinweisen, dass er zu einer Personengruppe gehört für die bestimmte Phänomene, wie „Cancel Culture, überhaupt nicht existieren. Einerseits. Andererseits verfügen nicht wenige aus diesem Personenkreis über „übernatürlichen“ außergewöhnliche Fähigkeiten, sodass sie sie bestimmte Katastrophen („Klimaapokalypse“) vorhersehen können.
Das ist wirklich beeindruckend: Gespenster sehen und gleichzeitig in die Zukunft blicken können. Zufall, dass gerade diese Leute meist selbst fleißig „Cancel Culture“ betreiben? Um das, oder genauer gesagt, dieses Phänomen der „Cancel Culture“, und ihr zerstörerisches Potential für liberale Gesellschaften besser zu verstehen, muss man zu Harry Lehmanns „Ideologiemaschinen. Wie Cancel Culture funktioniert“ greifen. Wie der Philosoph und Physiker selbst schreibt, geht er bei seiner Analyse wissenschaftlich und ideologiefrei vor. Ihn interessiert einzig und allein das Phänomen. Unabhängig von seiner politischen Einstellung, unabhängig von seinen persönlichen Präferenzen, unabhängig vom ersehnt-apokalyptischen Weltuntergang.
Seine These ist hierbei so simpel wie komplex: Gerade die nicht trennscharfe Unterscheidung zwischen politischer und nicht politischer Kommunikation sei vordergründig für nicht liberale Entwicklungen, wie es die „Cancel Culture“ sei, verantwortlich. „Cancel Culture“ sei hierbei nur als ein Symptom eines „viel gravierenderen Problems“ zu begreifen: Der durch und durch politisierten Kommunikation in fast allein gesellschaftlichen Teilsystemen.
Dass sich Lehmann hierbei auf kommunikative Aspekte fokussiert, ist kein Zufall oder gar eine Laune der Natur. Der promovierte Philosoph ist Systemtheoretiker und reiht sich in die Tradition Niklas Luhmanns ein, für den Kommunikation eine entscheidende Rolle spielt. Erst durch die Kommunikation entstünden soziale Systeme. Dementsprechend spielten Subjekt, Ontologie und Transzendentalphilosophie keinerlei Rolle.
Eben aus dieser systemischen Perspektive nähert sich Lehmann in insgesamt sechs Kapiteln dem destruktiven Phänomen der „Cancel Culture“ an. Oder wie er es bezeichnet dem „Cancel-Culture-Syndrom“, worunter er „cancel culture, wokeness, victimhood culture, safetyism und identity politics“ subsummiert. Vorher widmet er sich allerdings, in den ersten drei Kapiteln, dem Konzept der Ideologie.
Demnach sei Ideologie ein Sprachspiel, das sich aus zusammengesetzten politischen Kernbegriffen zusammensetze, und sich durch eine gewisse logische Schlüssigkeit und „kulturelle Anlehnungskontexte“ selbst rechtfertige. Mittels Machtmissbrauch würden moderate Einstellungen in den Hintergrund gerückt, radikale Positionierungen hingegen in den Vordergrund. Lehmann spricht auch von einer „Theorie der forcierten Gruppenpolarisierung“, mit der er das Phänomen der „Cancel Culture“ erklären möchte.
Der Vollständigkeit halber setzt sich Lehmann zusätzlich mit alternativen Modellen kritisch auseinander, die „Cancel Culture“ erklären möchten. Aus philosophischer, psychologischer, soziologischer, pädagogischer, ökonomischer, juristischer, religiöser und rhetorischer Perspektive. Was alle eint: Obwohl „Cancel Culture“ unabhängig von der politischen Couleur sei, sehe man, dass vordergründig massive illiberale Tendenzen aus dem links-grünen politischen Spektrum zu beobachten seien. Diese politische Richtung feuere geradezu eine pervertierte Politisierung aller Lebensbereiche an.
„Zum treibenden Faktor bei der Politisierung sozialer Systeme werden heute kommunikative Feedbackschleifen, die erst in einer digitalisierten Medienwelt entstehen und zu großen Verstärkungseffekten politischer Einstellungen in den entsprechenden Institutionen führen. […] Diese Feedbackschleifen gefährden nicht nur die operative Autonomie vieler Institutionen, sondern sie stellen auch das Grundprinzip einer jeden Demokratie infrage: ‚ein Bürger – eine Stimme‘“.
Um diese Selbstverstärkungseffekte politischer Kommunikation zu unterbinden, die Freiheitsrechte massiv einschränkten, müsse man „Ideologieunterbrecher“ in die sozialen Systeme einbauen. Hierzu gehöre es auch, dass die Leute ihre eigene Einstellung änderten. Heißt: Nicht bei jeder kleinsten Meinungsverschiedenheit oder Beleidigung das Gegenüber stumm machen und „canceln“ wollen. Oder gar mit dem Rechtsanwalt an die Tür klopfen.
Wenn man sieht, was sich heutzutage für eine „Cancel“-Manie im Namen von „Gerechtigkeit“, „Demokratie“ und anderen instrumentell „geframten“ Begriffen in Universitätsfluren, Redaktionsbüros und Theaterbühnen ausbreitet, kann man nur den Kopf schütteln. Aber Lehmann resigniert nicht oder verzweifelt gar. Stattdessen versucht er kämpferisch, weil sachlich, wissenschaftlich und rational, mit den fast 150 Seiten von „Ideologiemaschinen“ aufklärerisches Licht ins ideologische Dunkel zu bringen. Das gelingt ihm auch. Seine Quintessenz? „Cancel Culture“ hier plus „Cancel Culture“ dort gleich „Cancel Liberalism“.
Dieser ganze „Cancel“-Spuk zieht sich noch wie ein Schleier über die westlichen Nationen hinweg. Doch die „Ghostbusters – Die Geisterjäger“ von Ivan Reitman zeigen, dass es geht: Sie haben dem Spuk ein Ende bereitet. Und Lehmann zeigt, wie es so in der wirklichen Welt zugeht. Daher nicht ganz ernst gemeint:
„(Harry Lehmann)
If there’s somethin’ strange
In your neighborhood
Who ya gonna call
(Harry Lehmann)
There’s somethin’ weird
And it don’t look good
Why ya gonna call
(Harry Lehmann)“
Lehmann, Harry (2024). „Ideologemaschinen. Wie Cancel Culture funktioniert.“ Heidelberg: Carl Auer.