Andrick "Im Moralgefängnis"
02.06.2024
Manchmal wiederholt sich die Geschichte. Wieder grassiert ein Virus um die Welt. Abermals hat es fast die ganze Welt im Griff. Die Rede ist dieses Mal aber nicht von einem irgendwie mutierten oder gekreuzten Corona-Virus. Sondern von der „Moralitis“.

Anders als beim Corona-Virus wusste bereits Marshall McLuhan, wer besonders gefährdet sei, von ihr angesteckt zu werden: „Moralische Empörung ist eine grundlegende Technik, um einem Idioten Würde zu verleihen“. Und mittlerweile feiert die „Moralitis“ ihren hegemonialen Siegeszug.

Doch eine Unbekannte ist sie nicht wirklich. Bereits 1969 prangerte der renommierte Soziologe, Arnold Gehlen, in „Moral und Hypermoral“ einen krankhaften Humanitarismus an, der es als seine Pflicht ansah alle Menschen unterschiedslos zu lieben. 15 Jahre nach Gehlen kritisierte der deutsche Philosoph, Hermann Lübbe, in „Politischer Moralismus“ das andauernde Moralisieren im Bereich der Politik.

Heute, vierzig Jahre, später reiht sich der promovierte Philosoph, Michael Andrick, in diese Reihe der Moralismus-Kritik ein. Indem er westlichen Gesellschaften eine „Moralitis“ diagnostiziert. In seinem populärwissenschaftlichen Werk „Im Moralgefängnis. Spaltung verstehen und überwinden“. Vorneweg Andricks These: „Spaltung ist eine Infektion der Kommunikationswege mit dem Virus der Moralisierung“. Wir leben in einem „Regime des Moralismus“.

Andricks These verdeutlicht: Der Moralismus ist seit Jahren auf dem Vormarsch und hat den Marsch durch die Institutionen geschafft. Hier die Regenbogenflagge am Bundeskanzleramt, dort die journalistische Eloge auf die Aufnahme von Flüchtlingen und da wiederum der Schluckauf im Redefluss. In bestimmten Milieus scheint es mehr darauf anzukommen, was man sagt als was man tut. Dort ist es besonders avantgardistisch die moralinsaure Keule von der Kanzel aus zu schwingen. Von oben herab. Mit Schluckauf. Und ohne jeden Blickes für die rechte Seite.

Sprach Gehlen noch von einem pervertierten Humanitarismus mit nicht wirklichen gesellschaftlichen Konsequenzen, so wies Lübbe auf die zunehmende Moralisierung im politischen Diskurs hin. Mittlerweile befinden wir uns, wie es Andrick, bezeichnet „im Moralgefängnis“. Alles und jeder wird moralisiert. Die „Moralitis“ hat unsere Gesellschaft angesteckt: „An Moralitis leidende Bürger haben die offene, tolerante Debatte durch einen niveaulosen und realitätsfernen Wettstreit von Glaubensfraktionen ersetzt“. So weit ist es mittlerweile gekommen.

Mehrere gesellschaftliche Phänomene verdeutlichen den Ernst der Lage. Weil sie totalitäre Tendenzen repräsentieren. Da wären etwa die „Cancel Culture“ im Großen wie im Kleinen. Das „Vorabmarkieren“ und „Umstrittenmachen“ von unliebsamen Meinungen, Positionen und Personen. Oder aber die „Kontaktschuld“. Politisch institutionalisiert enttarnen sich totalitäre Züge etwa mit dem „Demokratieförderprogramm“, den ganzen „Faktencheckern“, mit dem Kampf gegen „Hassrede“ und mit der „Gendersprache“. So viel Totalitarismus hatten wir in Deutschland schon lange nicht mehr. Zumindest die eine Hälfte des Landes.

Neben gesellschaftlichen Entwicklungen, die für Andrick eine ausschlaggebende Rolle bei diesem Prozess der Totalisierung spielen, sieht Andrick jeden einzelnen in der Pflicht. Jeder kann dieser antidemokratischen Entwicklung entgegentreten. Die einfache und pragmatische Lösung? „Respekt“. Das hat aber nichts mit Respekt im Sinne von „Respekt, Bruder“ oder der sozialdemokratischen Lesart von Respekt zu tun. Vielmehr geht es Andrick um eine sachliche Diskussion auf Augenhöhe. Ganz anders als bei der „Moralitis“, wo per se die andere Diskussionsseite von oben herab abgewertet wird und die Diskussion, wenn möglich, gemieden wird. Stichwort „Cancel Culture“. Eben diese fehlende Diskussionskultur jedes einzelnen betrachtet Andrick als ausschlaggebend für die Verbreitung seiner diagnostizierten „Moralitis“.

Grundsätzlich möchte Andrick mit „Im Moralgefängnis“ „gedankliche Klarheit über die geistige und soziale Situation nach mehrere Jahren kollektiven Stresses […] gewinnen, damit wir seine Folgen besser bewältigen und unsere Beziehungen in Ordnung bringen können“. Hierzu wählt er einerseits einen philosophischen Blickwinkel. Wenn es zum Beispiel um die Bedeutungsklärung des Begriffes „Spaltung“ oder den Unterschied zwischen „Moral“, „Moralisierung“ und „Demagogie“ geht.

Andererseits liest sich „Moralgefängnis“ wie ein Kommunikationsratgeber mit psychologischen Schwerpunkt, der zur Selbstreflexion animieren soll. Zum Überdenken des eigenen Kommunikationsstiles, zum Nachdenken über den gesellschaftlichen und individuellen Einfluss der Corona-Pandemie und, idealerweise, zum Umdenken der womöglicherweise eigenen „Moralitis“. Wie heißt es doch so schön im Volksmund: Den anderen kann man nicht ändern, aber sich selbst schon.

Das macht „Im Moralgefängnis“ auch so angenehm zu lesen. Da ist niemand, der sein Gegenüber belehren oder gar missionieren möchte. Nein, da schreibt ein an Fakten und Sachargumenten orientierter und interessierte Mann. Man muss zwar nicht mit allem, was Andrick auf den über 170 Seiten zu Papier bringt, übereinstimmen. Doch als Leser weiß man: Es gibt noch Leute im Lande, die immun gegen die „Moralitis“ sind. Was für ein Glück!

Andrick, Michael (2024). „Im Moralgefängnis. Spaltung verstehen und überwinden“. Neu-Isenburg: Westend.
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