Die Pinocchiogesellschaft
Wie uns der nichtwissende Wille
(beg)leitet
06.02.2018
Der Holzjunge
Pinocchio wünscht
sich nichts sehnlicher als ein richtiger Junge aus Fleisch und Blut
zu werden. Doch bis es soweit ist, muss er sich im Fluss des Lebens,
das ihn stets zwischen den Ufern von Areté (des Guten) und von Kakai
(des Schlechten) herspült, seinen eigenen Weg zu einem guten,
gelingenden Leben finden. Dieses gelingt ihm schließlich und er wird
ein echter menschlicher Junge.
Wie Pinocchio, befinden auch
wir uns in den Stromschnellen des Lebens, mit dem Unterschied, dass
wir dieses als nichtwissende, hippe Nomaden tun. Denn wir meinen
echte Menschen zu sein, aber de facto sind wir es nicht. In praxi
sind wird nichtwissend Wollende. Getriebene, Wütende, Rastlose ohne
jegliches Telos, ohne jeglichen Thymos. Pro nihilo. Entfremdete nicht
nur in der Welt, sondern auch im eigenen Selbst. Immanent entfremdet,
transzendent entfremdet, hyperentfremdet. Gewissermaßen Entfremdung
par excellence.
Der unbändige, barbarische im
Herzen frei flottierend ausschlagende Wille ist nur schwer zu
justieren. Einziger Orientierungspunkt? Das Außen. Oder genauer, die
Hegemonie der Zweckrationalität. Es gilt lateinisch „quid
pro quo“, christlich
„Auge um Auge, Zahn um Zahn“ und salopp-straßentauglich „Wie
du mir, so ich dir.“ Doch ist es wirklich das „Ich“, das hier
denkt? „Ich“, das hier lebt? Sollte es nicht richtigerweise
heißen: „Es“ denkt, „Es“ lebt? Wo ist das „Ich“, wo bin
„Ich“? Ist „Es“ nur Zweck?
Deswegen marschieren wir doch
wie uniformiert Meinende, uniformiert Denkende, uniformiert
Handelnde. Alles sinnfreie, verzweckte Gestalten in zweckigen
Uniformen. Nichtwissend Wollende, die meinen wollend zu wissen, was
sie wissend wollen, aber nicht wissen, dass sie nichtwissend wollen.
In dieser Willensspirale gefangen, verlieren sich offenkundig nicht
wenige in den Tiefen der neumodischen, psychologischen Brandmarkungen
von Depression über Burn-Out bis hin zum Workaholic. Das ist eben
das amorphisierende Momentum im Leben des nichtwissenden Willens.
Doch ist das alles? Dieser
negative Voluntarismus sich erstreckend von Schopenhauer („Die Welt
als Wille und Vorstellung“) über Nietzsche („Der Wille zur
Macht“) bis hin zu Freud („Das Ich ist nicht Herr im eigenen
Haus“)? Dieses traurige Bild, dass wir irgendwo stehend zwischen
dem barbarischen Tier und dem humanen Menschen als gezähmtes,
domestiziertes Halb-Mensch/Halb-Tier-Wesen zu finden sind? Nichts
mehr als ein surrealer Albtraum, aus dem einige von uns hoffen
endlich zu erwachen? Schauen wir genauer hin, dann erhaschen wir noch
diejenigen kamoufliert Vagabundierenden, die über Thymos und Télos
verfügen: den wissenden Willen.
Der wissend Wollende ist
offenkundig auch ein Getriebener. Doch im Gegensatz zum unwissend
Wollenden weiß dieser sein inneres, wildes Tier zu zähmen. Er ist
sein Dompteur sui generis. Er ist der Steuermann seines auf offenem
Meer befindlichen Schiffs. Er ist sein „Ich“. Nicht außen,
sondern das Innen zählt. Kein zweckrationaler, sondern ein
gelingender Diskurs findet statt. Deswegen obliegt ihm nach Hegel
sich zum denkenden Willen zu erheben. Vom wissenden Willen zum
denkenden Willen. Die Vorzüge des wissend Wollenden gegenüber dem
nichtwissend Wollenden: Die Aussicht auf den philosophischen Eros.
Deswegen will er sich nicht
fügen. Deswegen will er ausbrechen. Deswegen muss er aus der Reihe
tanzen. Das „Ich“ will sich nicht dem „Es“ subordinieren. Das
„Ich“ als intellektueller Flüchtling sozusagen. Ein Vertriebener
aus den eigenen Reihen. Aus Sicht der unwissend Wollenden ein
undankbarer Nonkonformist, den es zu zähmen und ächten gilt.
Schließlich macht ihn sein eigenwilliger Impetus unberechenbar und
unbequem. Schließĺich ist er es, der weiß, was er will.
Somit ist er der geborene
Eremit. Nicht für die Gemeinschaft geschaffen. Doch ohne sie kann er
nicht leben - und dass weiß er. Aber auch die Gemeinschaft kann
nicht ohne ihn leben. „Die Tendenz der Herde ist auf Stillstand und
Eigensinn ausgerichtet, es ist nichts Schaffendes in ihr“, wusste
schon Nietzsche. Wie sonst kann der nichtwissende Wille - außer
durch Zufall - etwas erschaffen? Eine aussichtslose Aufgabe.
Wenn man beachtet, dass es sein
von außen sozialisierter Steuermann ist, der sich ihm melodienreich
als eigene Stimmte aufdrängt, wird es nur allzu verständlich, dass
alle unisono die gleiche Melodie in unterschiedlicher Stimmlage mit
minimalster Kakofonie singen - schließlich sind nicht alle die
geborenen untertänigen Musiker. Choral, fast pastoral erklingend
verpuffen sie - egal ob Mezzosopran oder Bariton, ob Alt oder Bass -
zu einer sich vereinheitlichenden Stimme. Ihr immanenter Ersatzgott.
Ihre einträchtige Ersatzreligion. Amen.
Aber auch dieser
pseudoplural-musicalhafte Gesang des nichtwissenden Willens kann ihr
tiefes, nihilistisches Vakuum nicht füllen, sie letztlich nicht
erfüllen. Denn gerade die inneren Stimmen sind es nach Friedemann
Schulz von Thun, die als diskursive Wertträger fungieren und somit
sinngebend den Nihilismus erschlagen und den Weg zum Selbst
aufschlagen. Deswegen ist nur der wissende Wille im Stande
Aristoteles Grundtugenden - Phronesis (Klugheit), Dikaiosyne
(Gerechtigkeit), Andreia (Tapferkeit), Mesotes (Mäßigung) - zu
verstehen und zu hierarchisieren.
„Gerade in der Psychotherapie
haben wir es nach meiner Ansicht oft mit dem Sachverhalt zu tun, dass
Menschen gleichzeitig mehrere Intentionen verfolgen, die aber
eigentlich miteinander unvereinbar sind und sich in ihrer
Realisierung gegenseitig behindern“, so der deutsche Psychiater
Klaus Grawe. Offenkundig trifft dies sowohl für den nichtwissenden
als auch für den wissenden Willen zu. Der Nichtwissende, nicht im
Stande diesen Konflikt - da für ihn unsichtbar - zu bewältigen,
wird zur Causa für den Therapeuten. Der Wissende, wissend und
willens, diesen Konflikt zu lösen, orientiert sich beherzt an
Schopenhauers Bonmot der Kunst als zeitweiliges „Quietiv des
Willens“, also als Beruhigungsmittel.
Hier kann sich der wissende
Wille probieren, austoben, „enttrieben“, sich in seiner ganzen
Komplexität erfassen. Netzwerken ist auch hier en vogue. Aber es
wird nicht außen, sondern innen wie wild genetzwerkt. Wort wird mit
Wort, Gedanke mit Gedanke vernetzt. Es gilt nicht Facebook, sondern
Willbook. Nicht WhatsApp, sondern WillsApp. Nicht World Wide Web,
sondern World Wide Will. Das ist der wollende Raum. Der Chatroom für
wissend Getriebene, Wütende, Willende.
Eine unabdingbare Notwendigkeit
für das gute, gelingende Leben. Denn können der Zweck, ja der Nous,
die ersten Prinzipien begründen? Erklären was das Sein sei?
Ontologisch, epistemologisch? Gar aus neurowissenschaftlicher
Perspektive mit bunten Bildchen vom Gehirn, deren einige Vertreter
sich selbst das Etikett der willenlosen Puppe ankleben?
„Le coeur a ses raisons que
la raison ne connaît point“ (Blaise
Pascal). Die grundlegende Weltordnung - also der wissende Wille - ist
entscheidend und nicht die pinocchiohafte, zweck-hölzerne des
nichtwissenden Willens. Erst sie ermöglicht Selbstliebe, Weltliebe
und Menschenliebe, also echte Menschlichkeit.