Die
AfD als antagonistischer Lückenfüller
Notwendige Spannung oder spannungsreiche Notwendigkeit?
04.10.2017
Der
Wahlerfolg der AfD kann als emotionaler Befreiungsschlag der sich
jahrelang aufgestauten, unterdrückten und unfähig zu
artikulierenden Frustration der Ostdeutschen verstanden werden. Es
ist eine Befreiung vom sich selbst als absolut gesetztem
hypermoralisierenden, kollektiven Willen, dessen fehlender,
lebensnotwendiger Antagonist neu erfunden werden musste. Ob dieser im
Gewand des Nationalismus oder der Ausländerfeindlichkeit erscheint,
oder in einem Alternativen zu diesem alternativen Gewand bleibt uns
überlassen.
Der Wahlerfolg der AfD kann als emotionaler Befreiungsschlag der sich
jahrelang aufgestauten, unterdrückten und unfähig zu
artikulierenden Frustration der Ostdeutschen verstanden werden. Es
ist eine Befreiung vom sich selbst als absolut gesetztem
hypermoralisierenden, kollektiven Willen, dessen fehlender,
lebensnotwendiger Antagonist neu erfunden werden musste. Ob dieser im
Gewand des Nationalismus oder der Ausländerfeindlichkeit erscheint,
oder in einem Alternativen zu diesem alternativen Gewand bleibt uns
überlassen.
Wen die hohen Wahlergebnisse der AfD im Osten mit einer eruptiven
Heftigkeit erschlugen, die die Zeiger des Seismographen zum
erratischen Tanz veranlassten, ist lapidar gesprochen - Verzeihung -
ein Ignorant. Ein Ignorant, der nicht in die Welt, sondern in sich
hinein blickt. Ein Ignorant, der mit einer geistigen und emotionalen
Immunität für die Zeichen der Zeit, respektive für die sich
langsam westwärts aufschäumenden Welle ausgestattet ist.
Der 24. September diesen Jahres war nämlich die langersehnte
Möglichkeit einer Artikulation. Jener Artikulation der sich seit 27
Jahren angestauten Emotionen von Ärger und Wut, von Resignation und
Verzweiflung, über das namentlich vereinte, aber de facto weiterhin
geteilte Deutschland.
Der sich unter anderem dem Körperkult huldigende Westen machte es
sich die letzten Jahre unter seinen Kopfhörern und seiner
Schlafmaske in den Abteilen der ersten Klasse zu gemütlich, während
der kranke Osten - von den Geldspritzen des Westens betäubt und
fixiert, aber nicht geheilt - neidisch zu ihm aus der zweiten Klasse
hinaufschaute. Hin und wieder traten erratische Eruptionen als
Ausdruck einer Identitätsdiffusion auf, die aber verteilt und
asynchron auf der Bildfläche erschienen, und genauso schnell wieder
verschwanden. Der sedierenden Wirkung des Wacholderschnaps sei Dank
für diese nur kurzzeitig auftretenden, ekzematischen
Verwirrungsschübe auf den Spuren der Identitätssuche durch den
Thüringer Wald.
Erst die AfD ermöglichte - was die LINKE nicht schaffte - eine
Kanalisierung und somit einen symbolischen Ausdruck dieser östlichen
Identitätskrise bis hin zu einer emotionalen Katharsis, die mit dem
Einzug der AfD in den Bundestag kulminierte. Durch sie entstand eine
Projektionsfläche, durch die der Osten aus seiner verbalen Starre
gelöst wurde und seine Gefühle - wenn auch nicht treffend, aber
immerhin - artikuliert wurden. Deswegen vermutlich auch die Wucht,
mit welcher ihre Expression aufkam. Gewissermaßen ein emotionaler
Befreiungsschlag der sich jahrelang aufgestauten, unterdrückten und
unfähig zu artikulierenden, frustrierenden Suche nach dem „Wir“.
Es waren die Gegensätze die beunruhigten. Die zwischen Ost und West,
die zwischen Wort und Tat, die zwischen Konkretem und Abstraktem.
Aber noch viel frustrierender war die kategorische Leugnung dieser
Unterschiede, ja die politische und mediale Propagierung eines
harmonischen Verhältnisses. Eines harmonischen Verhältnisses des
einen „Wir“, das diametral zur von Zerrissenheit und
Individualisierung durchzogenen Wirklichkeit steht - inklusive einer
ignorierten und nicht therapierten östlichen Identitätsproblematik.
Dieses andauernd propagierte harmonische „Wir“ ist aber nur ein
Utopisches, ein Ideales: Das „Wir“ der nationalen Gemeinschaft.
Das „Wir“ des kollektiven Willens. Das „Wir“ der
supranationalen Weltverschwisterung (Verbrüderung darf man ja nicht
mehr sagen, zu sehr wird es mit expansivem und aggressivem Verhalten
assoziiert!). Trotzdem wird es aufdringlich inflationär in den
politischen Mund genommen. „Wir schaffen das!“
Es erinnert ein bisschen - in euphemisierender Form verpackt - an
einen Ausspruch aus dunkleren Zeiten der deutschen Geschichte: „Du
bist nichts, das Volk ist alles!“ Dem „Wir“ wird, wie dem
“Volk“, eine heilende, allmächtige Wirkung der Vereinigung doch
so unterschiedlichster Kräfte auf Kosten des Individuums, oder wie
heute zum Nachteil partikularer Bewegungen, unterstellt. Es soll DAS
ultimative, integrative Klebemittel sein, dem kein Antagonist
gegenübersteht. Stattdessen verabsolutiert sich das „Wir“ und
füllt den ganzen Raum, auch den der Differenz. Indem es das „Sie“
nicht beachtet, nicht thematisiert, nicht ernst nimmt, wird es zum
alleinigen Platzhalter.
In dieser „wir“ren Integrationsutopie der globalen Moralisten hat
das Partikulare keinen Platz. Es wird ausgeschaltet, ja
gleichgeschaltet und so dem kollektiven, hypermoralisierenden Willen
des „Wir“ untergeordnet. Leute, die gegen Ausländer sind, gibt
es nicht. Leute, die für Atomkraft sind, gibt es nicht. Leute, die
existentielle Probleme haben, gibt es nicht. Alles was nicht in den
kollektiven Willen passt, gibt es nicht. So lässt es sich gut und
gerne leben.
Diese durch eine hegemoniale Dominanz charakterisierte äußerliche
Spannung und die hiermit einhergehende Unterlegenheit spürte man
zunächst im identitätssuchenden Osten. Umso mehr, als dieser
Veräußerung eine Verinnerlichung hinzutrat, die in einer
Entfremdung von der Wirklichkeit und somit in einer existentiellen
Obdachlosigkeit mündete. Innerer und äußerer Wertekompass schlugen
wild um sich umher. Orientierungslos, entgegengesetzt, verwirrt.
Bis eine Alternative, die AfD, kam und sich aus den Fängen des „Wir“
befreite, sich als starken Antipoden dieses „Wir“ inszenierte.
Als einheits-, insbesondere identitätsstiftendes Moment des
Differenten, des Anderen versprühte sie ein Gefühl der
Zugehörigkeit, wonach sich viele nach einer Zeit der Odyssee, einer
Zeit ohne Telos und ohne Perspektive, sehnten. Die AfD ergriff diese
Chance und füllte diese Lücke, die die etablierten Parteien im
Rausche ihres Moralismusmantras nicht wahrnehmen wollten und nicht im
Stande waren zu füllen.
Wie die Sehnsucht nach der schützenden, geborgenen Umarmung der
Mutter in Zeiten des Umbruches, der Unsicherheit steigt, wird der
Schrei nach der wärmespendenden, grenzsetztenden und zugleich
einenden Mauer der identitätsstiftenden Nation immer lauter. Das
„Wir“ erschafft sich sein fehlendes, existentielles „Sie“ der
Zugehörigkeit, dessen romantische Nostalgie à la „früher war
alles besser“ als Symptom einer tiefgreifenden Krisis zu verstehen
ist, als Krisis einer pervertiert überbetonten erfolgs- und
leistungsorientierten Gesellschaft.
Die warme, einlullende Glaskugel dieser pazifistischen
Hypermoralutopie ist in ihrer Abschottung und ihrem expansiven Mantra
nicht mehr sicher. Erste Risse verteilen sich langsam über sie.
Risse des Protestes, Risse des Nationalismus. Doch bis das Glas der
Harmonie endgültig zerspringt, ist es noch nicht zu spät. Mit dem
richtigen Werkzeug, dem der Antithetik, kann der Schaden behoben
werden. Behoben, dass aus Rissen Spalten, aus Spalten Kluften und aus
Kluften Scherben werden. Behoben, dass unsere Gesellschaft zu einer
Gesellschaft im Scherbenhaufen wird. Die Einsicht in die
Notwendigkeit einer Differenz von „Wir“ und „Sie“ ist der
Klebstoff, der den Scherben der Disharmonie den Weg versperrt.
Auf politisch-debattierender Ebene bedeutet dies das notwendige
Erwachen des hitzigen Schlagabtausch, des polarisierenden Diskurses
aus ihrem Dornröschenschlaf. Gerade dieser fehlende wortgewaltig
antagonistische Austausch des hitzigen Wortes exemplifiziert das
einheitsstiftende Moment, und nicht der supranationale,
verschwisterte Wille, wie es die Hypermoralisten propagieren. Das
leidenschaftlich Trennende ist paradoxerweise das vernünftig
Einigende.
Ob dieses Differente inhaltlich mit nationalistischen oder
ausländerfeindlichen Gedanken gefüllt wird, oder mit einer
Alternativen zu dieser Alternative, bleibt uns überlassen.
Füllmaterial liefert uns die Welt - wie das politische Geschehen
tagtäglich zeigt - zu Genüge. Faktum ist und bleibt, dass die Zeit
nach einer den Antagonismus lückenfüllenden Alternativen ruft und
sich gegen die vereinnahmende Verabsolutierung des „Wir“
auflehnt.
Diese Auflehnung erleben wir gerade. Es ist eine Auflehnung des
partikularen, individuellen Willens gegen den hypermoralisierenden,
kollektiven Willen. Es ist eine Auflehnung von „Wir“ gegen „Sie“.
Es ist eine Auflehnung des vergessenen „Ostens“ gegen den
selbstvergessenen „Westen.
Aber bleiben wir optimistisch: „Wir schaffen das“!